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Walter Vitt zum 80. Geburtstag

Am Ende des Wikipedia-Eintrags zu Walter Vitt [1] finden sich die Links zu den Personen-Normdaten mit denen ihn die Gemeinsame Normdatei der Deutschen Nationalbibliothek, die Library of Congress der Vereinigten Staaten und der von beiden initiierte Virtual International Authority File als deutschen Journalisten, Kunstschriftsteller, Kunstkritiker, Ausstellungskurator und Sammler kanonisierten, jenen Tätigkeitskategorien, mit denen sein Eintrag beginnt.

Sein Leben begann am 2. Oktober 1936 im thüringischen Gera, seine literarische Karriere in Münster, wo er nach dem Abitur (1957) Germanistik, Publizistik, Geschichte und Philosophie studierte und bereits 1958 zum Chefredakteur der Studierendenzeitung ‚Semesterspiegel‘ (SSP) avancierte. An dieser 1954 gegründeten und damit ältesten, kontinuierlich erschienenen deutschen Studierendenzeitung haben unter anderen auch Wolf Lepenies, Klaus Hurrelmann und Rupert Neudeck ihre ersten Sporen verdient. Gemeinsam mit seinen damaligen Kommilitonen Eckehard Munck und Hendrik W. Höfig erfand und entwickelte Vitt die „Hirschlyrik“, ein literarisches Mirabilium in Form einer „lyrischen Groteske“ [2] orientiert an den Versen der Gebrüder Grimm, jedoch ausschließlich um das berüchtigte Wappentier der deutschen Wohnzimmerdekoration der 1950er Jahre kreisend. Die Erstpublikation einer hirschlyrischen Anthologie, kongenial illustriert von Robert Eid, erschien in Form eines Privatdrucks im Jahr 1961. In diesem Jahr begann Vitt für den Westdeutschen Rundfunk zu arbeiten, der über die nächsten 37 Jahre sein Hauptarbeitgeber bleiben sollte. Im WDR-Büro Münster wurde er Regionalreporter und blieb dort, bis er 1963 als politischer Redakteur nach Köln wechselte.

Schon in den sechziger Jahren wandte sich Vitt zunehmend der Kunst seiner Zeit zu, setzte sich intensiv mit ihr und ihrer Szene auseinander, schrieb Berichte und Kritiken, unter anderen für die Aachener Nachrichten, wie Klaus Honnef, der damals deren Feuilleton leitete, in seiner Hommage zu Vitts siebzigstem Geburtstag bemerkte. „Was mich an seinen in der Regel knappen Artikeln stets bestach, war die genaue, zugleich anschauliche Sprache, die alles Wesentliche über ihren Anlass – eine Ausstellung, den „runden“ Geburtstag eines Künstlers, einer Künstlerin – mitteilte, mit Empathie gegenüber dem Gegenstand, ohne je in Versuchung zu sein, auf der Glatze im Sinne Karl Kraus´ eine Locke zu drehen. Walter Vitt ist ein Kunstkritiker, der für Leser schreibt, natürlich auch für die Künstler seines Interesses, aber zuallerletzt für sich und die Galerie." [3] Vitt hat für regionale und überregionale Tages- und Wochenzeitungen geschrieben, darunter auch für das in New York erscheinende Monatsmagazin 'Aufbau', und für nahezu alle deutschen Kunstzeitschriften.

Diesen Aspekt und generell die frühen Jahre seiner kunstkritischen Arbeit weiter zu beleuchten, wird erst die Erschließung seines Archivs ermöglichen, der das gesamte ZADIK-Team mit großer Vorfreude entgegensieht. Zu den bisher frühesten Zeugnissen im ZADIK zählt ein Foto, das Walter Vitt bei der Vernissage der Ausstellung Winfred Gaul in der Städtischen Galerie Nordhorn im Jahr 1971 zeigt, mit dem Typoskript seiner Eröffnungsrede in der Hand. Vitts größtes Interesse genossen schon zu dieser Zeit Künstlerpersönlichkeiten, die sich der konstruktiv konkreten Kunst verschrieben hatten. Die bestechende Seriosität und wissenschaftliche Gründlichkeit seiner Studien, die ihm bis heute die Hochachtung seiner Kolleginnen und Kollegen sichert, manifestierten sich bereits in seiner ersten kunstwissenschaftlichen Veröffentlichung, dem Werkverzeichnis der Druckgrafik von Walter Dexel, 1915 bis 1971, das 1971 die junge Kunstbuchhandlung Walther König auslieferte (und 1998 in einer zweiten Auflage, ergänzt um Dexels letzte druckgrafische Werke bis 1973, erscheinen sollte). Dexel war eine von mehreren Künstlerpersönlichkeiten, die Vitt in seinen Schriften und als Anreger und Kurator von Ausstellungen - die er häufig mit Einführungsreden eröffnete - durch ihre gesamte weitere Karriere hindurch begleitete.

1975 veröffentlichte Vitt in der von der Stadt Köln herausgegebenen Reihe ‚Kölner Biographien‘ seine Studien über die Kölner Progressiven Heinrich Hoerle und Franz Wilhelm Seiwert. Spätestens bei diesen Forschungen muß ihm die Fama einer Figur aus der Kölner Dada-Szene begegnet sein, deren Leben und Werk aufzuspüren und zu entschlüsseln er viele Jahre widmete: Johannes Theodor Baargeld, mit bürgerlichem Namen Alfred Ferdinand Gruenwald. 1977 publizierte Vitt sein Meisterwerk sozusagen 'forensischer' Kunstgeschichte, das selbst in den Höhen der akademischen Disziplin große Aufmerksamkeit und Anerkennung erfuhr: 'Auf der Suche nach der Biographie des Kölner Dadaisten Johannes Theodor Baargeld', das eine ganze Reihe weiterer Forschungen nach sich zog, die in weiteren Veröffentlichungen mündeten. Als erste folgte ein vom WDR produzierter Fernsehfilm mit dem Titel 'Auf der Suche nach Baargeld'. Für seinen Film war Vitt im Sommer 1983 eigens nach St. Magdalena, Südtirol, gereist, um Reinhold Messner zu Baargelds Bergsteigerleistungen und zur Vergleichbarkeit von Kunst und Extrembergsteigen zu befragen. Parallel zum Film erschien sein neues Buch 'Bagage de Baargeld - Neues über den Kölner Zentrodada (Starnberg 1985), 1987 (und erneut in anderer Ausgabe 1990) gab er ‚Johannes Theodor Baargeld - Texte vom Zentrodada‘ heraus, die er 2001 in ‚Johannes Theodor Baargeld – Fummelmond & ferngefimmel‘ um weitere ergänzte. Fast wie aus dem Nichts hat Vitt das Phantom Baargeld zu nahezu greifbarer Körperlichkeit materialisiert.

1978 gab Vitt seiner kunstkritischen Arbeit einen selbstreflexiven Rahmen: er wurde aufgenommen in die deutsche Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbandes AICA (Association Internationale des Critiques d'Art). Im selben Jahr wählte ihn der Personalrat des WDR zu seinem Vertreter im WDR Kunstausschuss, der den Intendanten beraten sollte, wenn es um Kunsteinkäufe ging. (1987 ernannte ihn der Intendant zum alleinigen inoffiziellen Kunstbeauftragten des Senders.) Ein weiteres Tätigkeitsfeld eröffnete sich Vitt durch einen Lehrauftrag der Universität Münster, für die er bis 1996 Rundfunkpraxis lehrte. Andere Lehraufträge kamen von den Universitäten Bochum (1981), Dortmund (1984-1988), Siegen (1985/86) und Mainz (2000). Auch der WDR teilte die allgemeine Anerkennung von Vitts pädagogischen Fähigkeiten und ernannte ihn Anfang der 1980er Jahre zum ersten hauptamtlichen Ausbildungsbeauftragten. Zusätzlich zur AICA engagierte sich Vitt seit den späten 1970er Jahren auch berufspolitisch, als Mitglied des Redakteursausschusses und (1983 bis 1987) Personalratsmitglied des Deutschen Journalistenverbandes.

Mit ‚Progetto d'arte Nr. 3‘ von Michael Enneper nahm Vitt 1980 einen weiteren Künstler in den Kreis seiner Publikationen auf. Zwei Jahre später, 1982, erschien ein Werk, das seine Auseinandersetzung mit den Vertretern seiner bevorzugten Kunstrichtung zusammenfasste: ‚Von strengen Gestaltern. Texte, Reden, Interviews und Briefe zur konstruktiven und konkreten Kunst‘.

1986 wurde Vitt Sekretär der deutschen Sektion der AICA, von 1989 bis 2008 wählten ihn die Mitglieder der AICA zu ihrem Präsidenten – mit der bis heute längsten Amtszeit. „Unter seine Präsidentschaft fiel auch die schwerste Aufgabe, mit der ein deutsches AICA-Präsidium bislang konfrontiert war: die Erweiterung der West-AICA auf die Kunstkritiker aus jenem Teil Deutschlands, der zuvor eine eigene Sektion gestellt hatte, ohne die regimegenehmen Kunstinterpreten der DDR in cumulo trotz sanften Drucks von Seiten der internationalen Präsidentschaft aufnehmen zu müssen. Vitt meisterte die delikate Angelegenheit weitestgehend geräuschlos, und die Deutschen stellen heute über 170 Mitglieder. Darüber hinaus erhöhte er die Außenwirkung des Kritikerclubs und führte ihn in das Zeitalter des Internets, dessen Konsequenzen für den Beruf der Kunstkritik noch nicht annähernd eingeschätzt werden können.“[4]

Beim WDR wurde Walter Vitt im Jahr 1989 stellvertretender Nachrichtenchef des Hörfunks, im selben Jahr wurde „Auf der Suche nach Baargeld“ in einer gekürzten Neufassung gesendet. Gemeinsam mit seiner Frau Luiza hatte Vitt im Lauf der Jahre eine ansehnliche Kunstsammlung mit Werken konkreter Kunst zusammengetragen, die sie 1992 als Dauerleihgabe für 20 Jahre in den Gründungsbau des Museums für Konkrete Kunst Ingolstadt gaben, das aus der 1981 von der Stadt gekauften Sammlung Eugen Gomringers hervorgegangen war. 1992 schuf Vitt seine ersten ‚Sky lyrics‘, Textcollagen mit „Schriftrudimenten vom Himmel über New York […], Werbebotschaften an und auf den Wolkenkratzern vom Times Square, wie sie mir auf den Foto-Montagen von Gerd Winner entgegentreten“ (Walter Vitt). Hervorgegangen waren sie aus seinen seit 1987 gefertigten Bildcollagen bzw. Zitatcollagen, kleinen spielerischen Geistesblitzen in Form von (ausgeschnittenen) Zitaten aus Kunstwerken. Viele dieser Collagen hat er aber wieder vernichtet - "aus Qualitätsdgründen" (wi er sagt). Einige werden hier gezeigt.

1993 begründete Vitt für die AICA als Herausgeber die Reihe ‚Schriften zur Kunstkritik‘ [5]. Die Cover der Bände gestalten der Herausgeber und der Maler Lienhard von Monkiewitsch gemeinsam. Monkiewitsch liefert die künstlerische Figuration, Vitt übernimmt stets das typografische Gefüge. Die Bände sollen besonders, aber nicht ausschließlich, den Mitgliedern der deutschen AICA-Sektion Gelegenheit geben, zu aktuellen Themen der Kunstkritik Stellung zu nehmen. Der Umfang eines Bandes ist grundsätzlich auf 48 Seiten begrenzt, um die Lektüre leicht an einem Nachmittag genießen zu können.

Zu Vitts sechzigstem Geburtstag, 1996, gab Peter Volkwein, Direktor des Museums für Konkrete Kunst in Ingolstadt, unter dem Titel ‚An Kunst glauben, von Kunst träumen‘ eine Festschrift heraus. Mit einer Ausstellung und der Schrift ‚Kunst im WDR, Erwerbungen aus anderthalb Jahrzehnten‘ verabschiedete der WDR 1998 seinen langjährigen Mitarbeiter, der sich fortan noch stärker seinem Engagement für die Kunst und das kulturelle Gemeinwohl widmen konnte. Schon 1994 war Vitt in den Kunstbeirat der Stadt Köln berufen worden, der die Stadt in allen Fragen der Kunst im öffentlichen Raum berät. Ende der 1990er Jahre konzipierte er für die Gemeinde von St. Maternus und das Dominikanerkloster Heilig Kreuz ein Programm, das die Gemeindemitglieder mit der Ästhetik der Moderne vertraut machen sollte. 1999 erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande, im Jahr 2000 den Rudolf Jahns Preis.

Ein weiteres beredtes Zeugnis seines gemeinnützigen kulturellen Engagements ist das Bodendenkmal ‚Namen der Autoren‘ vor dem Hauptgebäude der Fachhochschule (jetzt: Technische Hochschule) Köln. Auf diesem Platz fand am 17. Mai 1933, als dieser Bau noch die Kölner Universität beherbergte, die berüchtigte Bücherverbrennung statt. Walter Vitt hatte vorgeschlagen, in die Bodenplatten dieses Platzes die Namen der Autorinnen und Autoren meißeln zu lassen, um an diesen barbarischen Akt zu erinnern. Im Mai 2001 setzten dann Steinmetzlehrlinge des Berufskollegs Ulrepforte Vitts Konzept um, indem sie die ersten vierzehn Namen einmeißelten und damit einen zweijährigen Rhythmus eröffneten, in dem von den nächsten Lehrlingsklassen dieses Projekt fortgeführt werden sollte. Im selben Jahr 2001 konnte die deutsche Sektion der AICA ihren 50. Geburtstag feiern, zu dem Vitt den Jubiläumsband ‚Vom Kunststück, über Kunst zu schreiben – 50 Jahre AICA Deutschland‘ herausgab.

Mit ‚Palermo starb auf Kurumba‘, dem 2003 erschienenen 13. Band der Reihe ‚Schriften zur Kunstkritik‘ schrieb Vitt ‚Wider die Schlampigkeiten in Kunstpublikationen‘ und reflektierte damit noch einmal die Gewissenhaftigkeit seiner eigenen Arbeiten. Der Landschaftsverband Rheinland ehrte ihn im Jahr darauf, 2004, mit dem Rheinlandtaler, der seit 1976 an Menschen verliehen wird, die „sich in besonderer Weise um die kulturelle Entwicklung des Rheinlandes verdient gemacht haben“. Neue Ehre erwies Vitt diesem Preis, als er 2005 zusammen mit Michael Zepter eine Unterschriftenaktion gegen den beabsichtigen Abriss des unter Denkmalschutz stehenden Riphahn-Baus der Kölner Oper startete.

Nach neunzehn Jahren im Amt übergab Walter Vitt im Jahr 2008 den Vorsitz der deutschen Sektion der AICA an Thomas Wulffen.

Im Jahr 2009 verstarb Luiza Vitt. Ihren Tod verarbeitete Vitt mit dem „Trostbuch“ 'E-Mails im Trauerjahr', mit dem er ihr zugleich ein einzigartiges literarisches Gedenken darbrachte. Sie war präsent, als Walter Vitt am 2. Oktober 2016 seinen 80. Geburtstag feierte, wozu ihm auch der Vorstand, die Mitglieder und das Team des ZADIK herzlich gratulierten.

Günter Herzog