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Rudolf Zwirner zum Geburtstag - Happy Birthday!

In jedem seiner zahlreichen Gespräche und Interviews gibt es immer noch Neues und immer noch aktuell Gebliebenes oder wieder aktuell Gewordenes zu erfahren, und immer wieder frappiert auch Fachleute, die glauben, schon viel über die Entwicklung des Kunstmarkts zu wissen, was Rudolf Zwirner wahrscheinlich als erster und nicht selten als einziger erkannt hat, wie zum Beispiel die Bedeutung der 1984 aus Düsseldorf über Paris nach Jerusalem ins Israel Museum gewanderten Anselm Kiefer Schau und der Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 für die Etablierung deutscher Kunst auf dem amerikanischen Markt oder die paradoxe Auswirkung von Warhols Siebdruckproduktion und seiner multiplen Verwendung eines Motivs, die eine weitaus progressivere Preisentwicklung erlebten als Unikate, oder, oder, oder. Seine Marktanalysen sind glasklar, knallhart und halten Stand, ob sie retrospektiv sind oder die Gegenwart betreffen. Zwirner war eben meistens dabei, als es passierte, und das nicht nur als Zaungast - vieles hat er selbst in Gang gesetzt und bewegt, wie den 'Kunstmarkt Köln `67', die weltweite erste Messe für moderne und zeitgenössische Kunst, die den internationalen Kunstmarkt für immer verändern und jene Geister entfesseln sollte, die ihn bis heute bestimmen.

Rudolf Zwirner wurde am 28. Juli 1933 als zweiter Sohn des Neurologen und Phonetikers Eberhard Zwirner und seiner Frau Irmgard geb. Hammerschmidt in Berlin geboren. 1940 zog die Familie nach Braunschweig, wo Vater Zwirner das 'Staatliche Institut für Lautforschung' gründete. In Braunschweig befreundete sich die Familie mit Eva Stünke, die dort von 1943 bis 1945 als, wie man heute sagen würde, 'Stadtkonservatorin' arbeitete. Eva Stünke half dem damals 10jährigen Rudolf Zwirner, seine Sammlung von über 2.000 Kunstpostkarten stilgeschichtlich zu ordnen. Gleich nach Kriegsende eröffneten Eva Stünke und ihr Mann Hein Stünke, der in Braunschweig seit 1942 für die Reichsjugendführung an der 'Akademie für Jugendführung' als Lehrgangsleiter eingesetzt war, in Köln ihre Galerie 'Der Spiegel'. Sein entscheidendes Kunsterlebnis hatte Rudolf Zwirner im Alter von 22 Jahren als Jurastudent beim Besuch der ersten documenta, 1955. Dort hatte er sich in eine Führung des Freiherrn von Buttlar für einen Rotarierclub eingeschlichen und war davon so beeindruckt, dass er sein Studium aufgab und ein Volontariat bei Hein und Eva Stünke in deren Kölner Galerie antrat.

1957 wechselte Zwirner nach Berlin in die Galerie von Gerd Rosen, der wie Stünkes, sein Geschäft unmittelbar nach Kriegsende am Kurfürstendamm 215 eröffnet hatte und 1949 in neue Räume in der Hardenbergstraße 7 gezogen war. Gerd Rosen hatte trotz seiner jüdischen Herkunft als privater Buch- und Kunsthändler in Berlin überlebt. Zwirner hospitierte dort in der Grafikabteilung und verfasste die Katalogeinträge für die Kunstwerke. Bei seiner Arbeit lernte er einige Händler kennen, unter anderen auch Heinz Berggruen, der sich nach seiner Emigration 1947 als Kunsthändler in Paris, Rive Gauche, an der Rue de l’Université niedergelassen hatte. Berggruen lud ihn 1958 ein, bei ihm zu volontieren, was Zwirner gerne annahm, denn Paris war damals noch die Welthauptstadt der Kunst. Im Dezember 1958 allerdings erhielt Zwirner ein Telegramm aus Köln. Hein Stünke, Mitglied des documenta-Rates, hatte Zwirner, damals 26 Jahre alt, als Generalsekretär für die 2. documenta vorgeschlagen. Er sollte am 2. Januar 1959 in Kassel anfangen und die Ausstellung managen, die im Juni eröffnet werden sollte. Zwirner hatte die komplette Organisation, die Pressearbeit und die Katalogredaktion zu bewältigen, was er mit Hilfe einer Sekretärin und eines Studenten auch geschafft hat. Auf derselben documenta hatte Hein Stünke für seine Mitarbeit statt eines Honorars die Erlaubnis bekommen, einen Grafikstand zu betreiben, den Rudolf Zwirners Frau Ursula betreute. Die wegweisende Erfahrung, die Stünke und Zwirners auf der documenta machten, war die, dass die documenta-Besucher Kunst nicht nur sehen, sondern auch kaufen wollten, und die documenta hatte sehr viele Besucher - 134.000 - und dementsprechend viele Käufer. Daran sollten Stünkes und Zwirner sich erinnern, als Anfang der sechziger Jahre der deutsche Kunstmarkt gegenüber dem Aufschwung des amerikanischen in eine Rezession zu fallen begann und man nach Möglichkeiten suchte, den Markt wieder zu beleben. Zwirners Anstellung bei der documenta endete im November 1959, und daher war er schon im Oktober nach Essen gefahren, um dort Räume für eine Galerie zu suchen, die er nach seinem documenta-Engagement eröffnen wollte. Auf Essen war seine Wahl gefallen, wegen der Sammlerdichte im Ruhrgebiet, weil er die Kunst auch unters breite Volk streuen wollte, und weil Köln wegen Stünkes und Düsseldorf wegen Alfred Schmelas Galerie als Standort nicht in Frage kam. Essen schien nicht schlecht zu sein, weil dort auch die Münchener Galerie van de Loo unter Leitung von Carlheins Caspari eine anscheinend gut laufende Filiale eröffnet hatte. Caspari, mit dem Zwirner regen Kontakt pflegte, ging jedoch bald als Direktor des Theaters am Dom nach Köln, wo er eine Rolle spielte in den frühen Fluxus-Präsentationen von Mary Bauermeister und Karlheinz Stockhausen. Durch seine documenta-Arbeit hatte Zwirner viele Künstler kennengelernt, von denen er Grafiken kaufte oder in Kommission nahm. Von dem Bremer Galeristen Michael Hertz, dem Daniel Henry Kahnweiler die Generalvertretung für die Picasso-Grafik in Deutschland übergeben hatte, kaufte er Blätter, für die ihm sein älterer Bruder Ruprecht, der gerade in Medizin promoviert und eine Stelle an der Universität Freiburg angetreten hatte, das Geld vorstreckte.

Noch im Winter 1959/60 eröffnete Zwirner seine Galerie in der Kahrstraße 54, in der Nähe des Folkwang Museums mit der Ausstellung „Moderne Druckgrafik“. Darauf folgten, sicherlich mit Unterstützung Stünkes, Ausstellungen von Hann Trier und Victor Vasarély. Eine seiner nächste Ausstellungen war die durch Vermittlung von Iris Clert zustande gekommene Doppelausstellung von Jesus Raphael Soto und Vassilakis Takis, deren Eröffnung mit einer musikalischen Darbietung von Soto gekrönt wurde, wie der Kunstkritiker John Anthony Thwaites in einer seiner damals gefeierten Kritiken beschrieben hat. Thwaites war während der Zeit der englischen Besatzung englischer Konsul in Deutschland und nach Gründung der Bundesrepublik in Deutschland geblieben, wo er als Kunstkritiker arbeitete und sehr schnell zu großem Ansehen kam. In der Zeitschrift 'The Bulletin' vom 14. September 1965 berichtete Thwaites vom Eröffnungsabend, auf dem Soto Gitarre spielte und Lieder aus seiner venezolanischen Heimat sang, was seine harten Op-Art Bilder in Thwaites Augen in visuelle Poesie umwandelte und den Verkauf förderte. Solche verkaufsfördernden Strategien hat Zwirner immer wieder praktiziert. - Übrigens war es der schon damals berühmte Schauspieler Bernhard Minetti, der Thwaites auf Zwirner aufmerksam gemacht hatte. Minetti hatte als passionierter Kunstsammler die documenta besucht und dabei Zwirner kennen gelernt, zu dem er später stets Kontakt halten sollte. So hat er unter anderem in Zwirners Kölner Galerie Anfang der siebziger Jahre Samuel Beckets „Krapp’s last tape“ dargeboten.

(Eine komplette Chronologie sämtlicher Ausstellungen der Galerie Zwirner finden Sie auf dieser Webseite unter ‚bestände / A 2‘. Im Bestand A 2 können Sie unter ‚Akten / files‘ ein Verzeichnis des Archivs der Galerie Zwirner im ZADIK sehen.)

Der Anfang in Essen war mühsam. Im März 1961 versuchte es Zwirner mit einer Ausstellung japanischer Kalligraphie, im Juni stellte er erstmals Rupprecht Geiger aus, im Oktober 1961 präsentierte er die erste deutsche Einzelausstellung von Cy Twombly, 1962 zeigte er Konrad Klapheck. Zwirner hat in seinen Erinnerungen erzählt, dass er schnell merkte, dass die Essener Geschmackshierarchie von Bernhard von Bohlen und Halbach dominiert wurde, für den, so Zwirner, "die Kunst mit Chagall zu Ende war". Mit seinen avantgardistischen Ausstellungen wie der Doppelausstellung von Soto und Takis, den Einzelausstellungen von Klapheck, Tapiès oder Twombly konnte Zwirner in Essen nicht reüssieren und entschied sich daher, nach Köln umzuziehen. Er bezog Räume im Kolumbakirchhof Nr. 2., ganz in der Nähe vom heutigen Museum Kolumba.

Am 14. September 1963 eröffnete Zwirner seine zweite Rupprecht-Geiger-Ausstellung im Kolumbakirchhof, und diesmal war sie ein Erfolg. Zwirner arbeitete im Falle Geigers auch weiter daran, den Künstler populär zu machen und schaffte es, dass im Oktober 1965 eine Retrospektive des Künstlers im Wuppertaler Von der Heydt-Museum gezeigt wurde. Nach Geiger zeigte Zwirner am 21.9.1963 mit Werken Daniel Spoerris Kölns wahrscheinlich kürzeste Ausstellung, die er selbst [im Kunstforum International 104, 1989, S. 240] folgendermaßen beschrieb: Die Ausstellung „[...] war eine kleine Sensation. Sie dauerte genauso lange, wie ein Frühstücksei kocht, also vier Minuten. Das Publikum stand gespannt in der leeren Galerie und blickte auf leere Wände. Da ging die Tür auf, und hereingetragen wurden Bilder, die Spediteure hängten sie auf. Nun gab Spoerri das Ei ins kochende Wasser und stellte die Uhr. Nach vier Minuten war das Ei gar, und die Spediteure holten die Kunst wieder ab und verstauten sie im Wagen. In den vier Minuten haben wir sechs Bilder verkauft! Ein Sammler, der nicht so fix alles übersehen konnte, lief raus und ließ sich ein Bild noch mal hervorholen. Um die Leute nach vier Minuten nicht gehen zu lassen, gab es ein Essen, zu dem Spoerri alles besorgt hatte, was es normalerweise hier nicht gibt: Fliegen, Würmer, Schlangen und anderes Ungeziefer in kleinen Dosen aus China, eingelegt in Öl. Alles zusammen verbriet er in Omelette[s]. Anschließend nahmen wir einen Underberg. […] [Die] neuen Künstler trugen dazu bei, dass Ausstellungen oft einen happeningartigen Charakter bekamen. Environments wurden aufgebaut, Beuys stellte ein Kästchen mit Fett ins Fenster, Kaprow machte Übungen mit dem Publikum, alles war möglich. Der Japaner Ayo z. B. hat meine Galerie bis oben hin mit zerknautschtem Zeitungspapier gefüllt und einen Tunnel gemacht, durch den wir alle kriechen mussten. Ich hatte eine Höllenangst, dass einer eine Zigarette anmacht.“

Im Jahr 1964 zog Zwirner vom Kolumbakirchhof um in die größeren Räume in der Albertusstraße 16. Zur Eröffnung zeigte Zwirner eine gemischte Ausstellung unter anderem mit Tinguelys 'Balouba 3' (1961), mit Werken von Bruno Goller, dem Lehrer von Konrad Klapheck und von Klapheck selbst, sowie die gerade gekauften „Curtains“ von Roy Lichtenstein. Als nächste Einzelausstellung im neuen Haus präsentierte er vom 30. Januar bis zum 20. Februar 1965 in deutscher Erstausstellung den Surrealisten René Magritte. Das rief, wie Zwirner später erzählte, den damaligen Ordinarius für Architekturgeschichte am Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln auf den Plan, der zu ihm in die Galerie kam, um ihm zu erklären, dass René Magritte kein Künstler wäre und Zwirner deshalb die Ausstellung abhängen müsse. Zwirner hat sich dann doch für Magritte entschieden und seinen Besucher wohl ziemlich ruppig der Galerie verwiesen.

Seit der Spoerri-Schau setzte sich Zwirner vermehrt für den Nouveau Réalisme und dann die Pop Art ein. Er zeigte Arbeiten von Robert Filliou, Jean Tinguely und John Chamberlain. Beeindruckt von der Kölner Fluxus-Szene um das Atelier von Mary Bauermeister gab es bei Zwirner Fluxus-Veranstaltungen, unter anderen eine mit Nam June Paik und Charlotte Moorman am 22. Mai 1965, die Zwirner selbst wie folgt beschrieb: „Sie spielte eine Bach-Sonate für Cello, während Paik vor ihr auf dem Boden lag und den Stift ihres Cellos im Mund hielt, was eine höchst vulgäre Assoziation vermittelte. Ein anderes Mal saß er am Flügel und zog - während er spielte – seine Hose runter; dabei stand er langsam auf. Das Publikum reagierte entsprechend mit „Schweinerei! Pornographie!“ Paik zog die Hose hoch und kroch ins Innere des Flügels und spielte von da aus weiter." Auch zur Eröffnung der Ausstellung mit Kalligraphien von Yuichi Inoue am 10. Juni 1965) gab es Konzert mit Stücken von Toshi Ichiynagi, einem japanischen Kompositionsschüler von John Cage. Auf dem Foto von diesem Konzert sieht man im Vordergrund als Dirigenten den Komponisten und Stockhausen-Schüler und auf dem Gebiet der bildenden Kunst Beuys-Schüler Michael von Biel, als zweiten Spieler von links den schon erwähnten Carlheinz Caspari und als zweiten Spieler von rechts Kasper König, der damals 19 Jahre alt war und bei Zwirner volontierte.

Auf die Pop Art war Zwirner 1963 zunächst durch Konrad Klapheck aufmerksam geworden, der ihn auf die damals laufende Eröffnungsausstellung der Galerie Sonnabend in Paris hinwies, auf der Werke von Jasper Johns und Robert Rauschenberg zu sehen waren. – Bei der documenta hatte Arnold Bode noch eines der drei Combine Paintings Rauschenbergs, nämlich 'Bed', das ihm überhaupt nicht gefiel, in Rudolf Zwirners Generalsekretärsbüro verbannt. - Im Herbst 1963 flogen Rudolf und Ursula Zwirner mit einer Reihe weiterer Galeristen, Museumsleuten, Kulturdezernenten und Sammlern nach New York. Die dreiwöchige Rundreise an der Ostküste entlang bis nach Detroit und Chicago hatte Karl-Heinz Hering, der Leiter des Düsseldorfer Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen organisiert. Während die meisten der Mitreisenden sie nutzten, um den abstrakten Expressionismus in seinem 'natürlichen Lebensraum' zu sehen, waren Schmela und Zwirner eher auf der Suche nach aktueller und zukünftiger Kunst in New York geblieben, wo sie mit ihren Frauen Galeristen und Künstler besuchten. Die damals der Pop Art zugewandten Galeristen waren Sidney Janis, Leo Castelli, Richard Bellamy mit seiner ‚Green Gallery‘ und Paul Bianchini. Zwirner hatte sich von Castelli empfehlen lassen, welche Künstler er aufsuchen sollte. Er war bei Warhol, Lichtenstein, Segal, Jim Dine, Claes Oldenburg und anderen, aber in seinem Rückgepäck war noch keine Pop Art, sondern nur der Plan für eine Ausstellung mit Jim Dine und ein teurer Max Ernst.

Schon zu Beginn seiner Kunsthändlertätigkeit hat Zwirner sich zum klassischen Kunsthandel bekannt und sich damit freimütig von den Galeristenkollegen wie dem Münchener Otto van de Loo, der sich selbst als Pilotgalerist verstand, unterschieden. Obwohl er der Avantgarde durchaus zugewandt war und junge Talente erkannte und förderte, hat er nie in dem Maße enge Bindungen zu Künstlerpersönlichkeiten aufgebaut und sich deren Förderung und Durchsetzung verschrieben, wie manche andere es taten. Von Stünkes hatte er früh gelernt, dass man in diesem damals unsicheren Gewerbe, dem Banken keine Kredite zu geben wagten, einige Sicherheiten brauchte, wie etwa einen Max Ernst oder andere auf dem Markt gut etablierte Positionen, um die Risiken der Investition in Neues abzufedern.

Viele Pop Art Künstler waren zudem bereits fest gebunden an die Galerien Leo Castellis in New York und seiner Exfrau Ileana Sonnabend, die mit ihrer 1961 in Paris eröffneten Galerie eine Art Monopol für die Distribution der Castelli-Künstler in Europa innehatte. So blieb vielen europäischen Galeristen außer der Zusammenarbeit mit Castelli-Sonnabend nur der secondary market und der Handel mit jenen Künstlern, die noch nicht an Galerien gebunden waren, wie etwa Jim Dine und John de Andrea. Jim Dine zeigte Zwirner in seiner Galerie vom 15. Februar bis zum 15. März 1964. Nur ein Werk aus dieser Schau – ‚Yellow Oil Can‘ - fand einen Käufer, der allerdings mit diesem Werk seine Pop Art-Sammlung begründete: Wolfgang Hahn, Gemälderestaurator am Kölner Wallraf-Richartz-Museum, hatte bereits 1956, als Zwirner ihn während seines Volontariats in Hein und Eva Stünkes Galerie kennen lernte, eine ansehnliche Sammlung Kölner Progressiver, aber auch jüngerer rheinischer Künstler, wie Nay, Schultze und Faßbender zusammengetragen. Mit dem Aufkommen der Neuen Realismen begann Hahn, seine Sammlung umzustellen und hat dafür vieles, was er bei Stünke gekauft hatte, zu Zwirner in Kommission gegeben, um Werke des Nouveau Réalisme, Fluxus und der Pop Art zu kaufen.

Im Frühjahr 1966 legte Rudolf Zwirner gemeinsam mit seinem Mentor Hein Stünke den Grundstein für die Pioniertat, mit der sich beide für immer in die Kunstgeschichte eingeschrieben haben. Sie gründeten zusammen mit sechzehn weiteren Galerien den ‚Verein progressiver deutscher Kunsthändler‘, um mit dem Verein eine städtische Förderung zur Verwirklichung ihrer Idee zur ersten Messe für moderne und zeitgenössische Kunst zu bekommen. Diese Idee hatte Gestalt gewonnen aus Stünkes und Zwirners documenta-Erfahrungen und ihrer Kenntnis der Vorbilder der ‚Deutschen Kunst- und Antiquitätenmesse‘ (seit 1956 in München), der ‚Stuttgarter Antiquariatsmesse‘ (ab 1962) und den ‚Salons internationals des Galeries-Pilotes‘ in Lausanne (1963, 1966). Am 12. September 1967 wurde der ‚Kunstmarkt Köln `67‘ eröffnet – und der Rest ist Kunstgeschichte. Im Anschluss an die Eröffnung des Kunstmarkts fand in der Galerie Zwirner die Vernissage von Andy Warhols ‚Thirteen Most Wanted Men‘ statt, mit 22 Siebdrucken auf Leinwand, übernommen von Ileana Sonnabend, der später so genannten ‚Mom of Pop‘, die allerdings auch Rudolf Zwirner seinen Tribut für die Durchsetzung der Pop Art in Deutschland zollte: "Zwirner had arranged that art fair in Cologne where Pop Art was quite god represented. From there on the artists were quite well known. Zwirner did a lot for the Pop Artists showing them and talking about them. And other galleries started asking for exhibition", so Ileana Sonnabend. [Zitiert aus Jochen Link: Pop Art in Deutschland. Die Rezeption der amerikanischen und englischen Pop Art durch deutsche Museen, Galerie, Sammler und ausgewählte Zeitungen in der Zeit von 1959 bis 1972. Diss. Stuttgart 2000, S. 155.]

Wolfgang Hahns Sammlung wurde 1968 mit einem sehr detaillierten Katalog (mit einem Vorwort von Paul Wember, dem avantgardistischen Direktor des Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museums) im Wallraf-Richartz-Museum ausgestellt und hat damit eine enorme Wirkung auf die regionale und nationale Sammlergemeinschaft ausgeübt. Hahns bei dieser Gelegenheit ausgestellte Pop Art Werke waren für Peter Ludwig die Initialzündung, seine Sammlung im Bereich der Pop Art auszubauen, und damit kam Rudolf Zwirner zu seinem wohl wichtigsten Sammler. Zu den ersten Werken, die er Ludwig verkaufen konnte, gehörten allerdings Gemälde eines neuen deutschen Realismus: Seit 1965 schon hatte sich Zwirner um Gerhard Richter bemüht, den er ganz gegen seine Prinzipien gerne exklusiv unter Vertrag genommen hätte. Richter allerdings scheute vor einem solchen Exklusivvertrag mit Zwirner zurück, weil er Alfred Schmela, vor allem aber Heiner Friedrich nicht brüskieren wollte, der sein Hauptgalerist war und ihn ab 1966 auch tatsächlich unter Vertrag nahm. Im November 1968 stellte Richter bei Zwirner aus, und aus dieser Ausstellung konnte er Peter Ludwig den ‚Akt, eine Treppe heruntersteigend‘, und auch die ‚Fünf Türen‘ verkaufen. Einen zweiten bedeutenden Verkauf eines Richter-Werkes an Ludwig gab es 1972, als Zwirner ihm noch während der Biennale Richters im deutschen Pavillon ausgestellte ‚48 Porträts‘ vermitteln konnte - zum überaus günstigen Preis von 48.000 Mark. - Im Oktober 1972 zeigte Zwirner Richters Photoedition der ‚48 Portraits‘. – Peter Ludwigs erste Käufe von Pop Art bei Zwirner erfolgten also ab 1968.

Auch Sigmar Polke hat Zwirner öfter präsentiert. Heinz Günther Prager erinnert sich an eine denkwürdige dieser Ausstellungen: „Ich entsinne mich einer Situation, wohl einer einmaligen in Zwirners Galerietätigkeit [...] in der am gleichen Abend zwei Ausstellungen eröffnet wurden. Das war so, bevor Rudolf Zwirner seine neue Galerie baute, neben der alten, doch sehr kleinen - heute ist das die Galerie Reckermann - gab es auf dem eher ruinösen Nachbargelände einen großen schuppenähnlichen Bau. Dort war parallel zu einer Judd-Ausstellung - die natürlich in der Galerie stattfand - eine Ausstellung mit Arbeiten von Sigmar Polke zu sehen. 1969 muss das gewesen sein. Ich weiss noch, wie sauer Polke reagierte, keine eigene Einladungskarte bekommen zu haben. Vielmehr stand am unteren Rand der Judd-Einladungskarte: da und da ist dann und dann eine Ausstellung von S. Polke. Die Lagerhausausstellung war die erste große Einzelausstellung, und für mich die lebendigste und schönste Sigmar Polkes! An diesem Abend war die Szene nicht bei Judd, sie spielte Tischtennis im Lagerhaus oder bastelte weiter an der Kartoffelplastik rechts neben dem Eingang. Später versah Polke diese Ausstellung mit dem Zusatz: Galerie Zwirner, Lagerhaus." [Zitiert aus: Heinz-Günter Prager: Rede anläßlich der Bestellung von Rudolf Zwirner zum Honorarprofessor der HBK Braunschweig am 27. Juni 2000. In: sediment Heft 12, 2006, S. 33-34.]

Gegen Ende des Jahres 1969 begleitete der Fotograf Guido Mangold für einen Beitrag für die Zeitschrift ‚Twen‘, der im Aprilheft 1970 als bebildertes Interview mit Zwirner unter dem Titel ‚Die Kunst, mit Kunst viel Geld zu machen‘ erschien, Peter Ludwig und Rudolf Zwirner durch einige New Yorker Künstlerateliers und Coffeeshops, wobei die hier abgebildeten Fotos entstanden. „Zwirner stellte die Skulpturen von Duane Hanson vor. Der Künstler war still und zurückhaltend. Ludwig kaufte die Gruppe Football Vignette für seine Sammlung in Aachen (ich glaube für zwölftausend Dollar). Eine Kuh aus Vlieswatte, mit echten Hörnern und Klauen, ein junger Künstler, der sie gemacht hatte. Peter Ludwig lehnte die Arbeit ab. Rudolf Zwirner kaufte die Kuh für seine Galerie in Köln und mir war schleierhaft, wie so eine Arbeit nach Deutschland transportiert wird. […] Am Abend lud uns Peter Ludwig ein: Jeder aß einen Donut, wir tranken Kaffee aus Pappbechern (es wurde nachgefüllt), wir feierten einen erfolgreichen Tag in einem Coffeeshop von Horn & Hardart.“ [Zitiert aus: Stephan Diederich u.a. (Hrsg.):Ludwig goes Pop. Ausst. Kat. Museum Ludwig Köln; Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien. Köln 2014, S. 113.] Diese Reise war eine von zahlreichen Aktionen während der jahrelangen Zusammenarbeit zwischen Peter Ludwig und Rudolf Zwirner, die Kasper König wie folgt kennzeichnete: "Ein Verdienst, den Zwirner wirklich hat, ist es, kompromisslos zu sein, wenn es um Qualität geht. Er hat Peter Ludwig, der ein sehr kenntnisreicher und engagierter Mann war, immer wieder neu herausgefordert auf dieser Ebene. 'Wenn Sie das haben, dann werden Sie auch für die Künstler und bestimmte andere Sachen interessant, die man Ihnen zugesteht.‘ Das hat er wirklich meisterhaft hinbekommen. Er musste immer aufpassen, denn er war immer von Castelli oder Sonnabend abhängig, hat dann aber immer wieder auch seine Risikobereitschaft und seine Unabhängigkeit in die Waagschale geworfen, bis es dann am Ende nicht mehr ging und das Phänomen erlosch." [Gespräch mit Günter Herzog am 30.1.2015.] Im November 1970 flog Rudolf Zwirner zum Einkaufen und vor allem wegen einer Auktion der Parke Bernet Galleries nach New York. Am 27. November 1970, berichtete die ‚New York Times‘ in einem Artikel mit dem Titel „American Pop really turns on German Art-Lovers“ über einen Bieter während der Auktion der Parke-Bernet Galleries, der mehr als jeder andere im überfüllten Saal beachtliche Aufmerksamkeit erregte: „Rudolf Zwirner, a 37 year old blond, blue-eyed German dealer from Cologne who soars to the staggering height of 7 feet“. Der Verfasser berichtete mit Erstaunen von heftigen Bietgefechten und davon, daß Zwirner Roy Lichtensteins gemalten ‚Brushstroke‘ ersteigerte für die damals „astronomische“ Summe von 75.000 Dollar, die bis dato noch nie für einen lebenden amerikanischen Künstler bezahlt worden war. Außerdem bot Zwirner 45.000 Dollar für Claes Oldenburgs Softskulptur ‚Stove‘, ebenfalls ein Auktionsrekord für eine Plastik eines lebenden amerikanischen Künstlers. Dazu erwarb Zwirner Andy Warhols ‚Liz‘ und mit „Spray“ einen weiteren Roy Lichtenstein. Die Reaktionen der amerikanischen Händlerkollegen waren alles andere als positiv. Besonders beunruhigt über diese europäische Konkurrenz zeigte sich der Pop-art-Händler Leo Castelli: „Americans never should have let important pieces like the Lichtensteins and Oldenburgs slip out of their hands.“

Im Jahr 1972 bezog Zwirner sein neues Galeriehaus, entworfen von Erich Schneider-Wessling, in der Albertusstraße 18, das zahlreiche Eröffnungen, spektakuläre Events und Abendessen – von Zwirner als ‚Abendbrot‘ bezeichnet – erleben sollte, wovon weiter unten ein jüngerer Sammler Zwirners berichten wird. Für Peter Ludwig und für sich selbst war Zwirner auch 1973 wieder in New York, um am Abend des 18. Oktober an der denkwürdigen Auktion zeitgenössischer Kunst bei Sotheby/Parke-Bernet teilzunehmen, auf der insgesamt 50 Kunstwerke aus der Sammlung des New Yorker Taxi-Unternehmers Robert C. Scull versteigert werden sollten. Zwirner kaufte an diesem Abend den Jasper Johns - Bronzeabguß der zwei Bierdosen der Marke 'Ballantine', für den Scull zehn Jahre zuvor 960 Dollar bezahlt hatte, für 90.000 Dollar. Im Dezember 1973 wirkte Zwirner mit bei der Überführung des Vereins progressiver deutscher Kunsthändler‘ in die ‚Europäische Kunsthändlervereinigung‘, deren Generalsekretär er blieb, bis diese mit dem Verein der ‚Internationalen Kunst- und Informationsmesse IKI‘ am 9. September 1975 zum ‚Bundesverband Deutscher Galeristen BDG‘ zusammenschloss, der sich später in ‚BVDG‘ umbenannte. In den siebziger Jahren setzte Zwirner seine Galeriearbeit erfolgreich fort mit einem gemischten, stets hochkarätigen Programm, aus dem etwa Einzelausstellungen mit Palermo, Richard Tuttle, Max Ernst, László Moholy-Nagy, Georg Baselitz, Gerhard Richter, Sigmar Polke, Dan Graham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Frank Stella, Jean Dubuffet, Salvador Dali, Agnes Martin oder Robert Wilson hervorragen.

In den achtziger Jahren setzte Zwirner neben seiner Galeriearbeit seine kuratorische Tätigkeit fort. So verhalf er 1981 Kasper Königs und Laszlo Glozers 'Westkunst', als deren Budget bereits erschöpft war, zu ihrer zeitgenössischen Abteilung mit dem Titel 'Heute', zu dem auch ein Sonderkatalog erschien, indem er an die Galeristen der Zeitgenossen appellierte, sich finanziell zu beteiligen. Im Jahr darauf, 1982, initiierte Zwirner das Modell der 'Premierentage', an denen Galerien gleichzeitig eröffnen und bisher noch nicht in Köln ausgestellte Kunst präsentieren sollten. Er besorgte dafür auch Fördergelder der Stadt, die halfen, den Katalog und die Öffentlichkeitsarbeit zu finanzieren. Zu seinen Ausstellungshighlights der achziger Jahre zählt Joseph Beuys 'Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch im August 1986, ein halbes Jahr nach dem Tod des Künstlers (23.1.1986). "Wohl zum ersten und einzigen Mal lag der Blitzstrahl und hing nicht wie vorher in London, später in Kassel, von der Decke herab. Er lag auf Böcken, davor, dazwischen, dahinter die anderen Teile der Skulptur: der Hirsch, die Urtiere und die Ziege, dann auf einem Bildhauerbock der Erdklumpen aus Wurzelreich mit Kompass, genannt "Boothia Felix". Man konnte zwischen allen Teilen gehen, sie berühren, war ganz dicht an der zur Bronze erstarrten Materie. Die Macht der Nähe, das Gerinnen der Bronze in feinste Nervenbahnen, ich war im Zentrum der Kräfte. Selten hat mich eine Skulptur so getroffen. Leider ist der Blitzschlag nicht in Köln geblieben, obwohl sich Rudolf Zwirner sehr bemüht hat, gerade diese Arbeit von Beuys für Köln zu sichern." Zitiert aus: Heinz-Günter Prager: Rede anläßlich der Bestellung von Rudolf Zwirner zum Honorarprofessor der HBK Braunschweig am 27. Juni 2000. In: sediment Heft 12, 2006, S. 33-34.] - Schon seit 1982 hatte er den Beuys-Schüler Felix Droese ausgestellt, der 1988 für Deutschland auf der 43. Biennale sein 'Haus der Waffenlosigkeit' installiert hatte. Im selben Jahr 1988 kuratierte Zwirner für das Museum Ludwig die Ausstellung 'Köln sammelt', deren Ziel es war, mit Leihgaben aus Kölner Privatbesitz auf die Leerstellen der städtischen, insbesondere aber auch der Ludwig'schen Sammlungen hinzuweisen. "Die Ausstellung wurde zwar gelobt", so Zwirner, "aber der eigentliche Zweck, die Sammlung Ludwig auch für andere Sammler zu öffnen, wurde nicht erreicht." Zwirners und Ludwigs Zusammenarbeit war in den ersten Jahren des Jahrzehnts schon abgebrochen, als Ludwig sich sehr auf den Fotorealismus konzentrierte und anfing, sich für südamerikanische und osteuropäische zu interessieren und als es ihm nicht gelungen war, ihn zum Kauf des dann nach Darmstadt gegangenen Beuys-Blocks für Köln zu interessieren, der Zwirner nach dem Tod von Karl Ströher von dessen Tochter Erika Pohl-Ströher und ihrem Mann Gerhard Pohl angeboten worden war.

Im Jahr 1992 beendete Zwirner seine Galerietätigkeit, insofern er den Ausstellungsbetrieb einstellte. Zeitgleich gründete sein Sohn David Zwirner seine Galerie in New York, die er im Februar 1993 in der Greene Street 43 in SoHo. eröffnete. Rudolf Zwirner machte in diesem Jahr von sich reden, als er in Hamburg den ersten Kunstmarkt für ausschließlich osteuropäische Galerien und Galerien, die ausschließlich mit osteuropäischer Kunst handeln, konzipierte und eröffnete. Im selben Jahr berief ihn der Bundesverband Deutscher Galerien BVDG zum Gründungsleiter des 1992 gegründeten 'Zentralarchiv des deutschen und internationalen Kunsthandels ZADIK'. Seiner regen Überzeugungsarbeit ist die Akquisition der wertvollen Gründungsbestände des ZADIK zu verdanken, zu denen auch sein eigener zählt. Bis heute ist Rudolf Zwirner dem ZADIK eng verbunden geblieben. 1994 kuratierte er mit Peter Weibel für das ZKM Karlsruhe die Ausstellung 'Drawing Room' mit Werken der Sammlung Reiner Speck. Auch dem ZADIK bescherte er in diesem Jahr eine erste Ausstellung mit dem Titel 'Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft' in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, die bis zum Jahr 2000 auch das ZADIK beherbergte.

1996 zog Zwirner zurück in seine Geburtsstadt Berlin und kuratierte dort für die 47. Berliner Festwochen zusammen mit Eckart Gillen für den Martin-Gropius-Bau die Ausstellung 'Deutschlandbilder - Kunst aus einem geteilten Land'.

Am 27. Juni 2000 ehrte die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig Rudolf Zwirner für seine Verdienste um die Kunstvermittlung, indem sie Ihn zum Honorarprofessor ernannte. Heinz- Günther Prager hielt die Laudation, aus der ich hier zitiert habe.

Im Jahr 2006 erhielt Rudolf Zwirner den ART COLOGNE Preis, den er selbst im 'Verein Progressiver deutscher Kunsthändler' im Jahr 1973 mitbegründet hatte. Die Kölnmesse schenkte Zwirner zusätzlich zum Preis eine Festschrift in Form eines zweisprachigen sediment-Heftes mit dem Titel ‚Um `67 – Rudolf Zwirner und die frühen Jahre des Kunstmarkt Köln [= Heft 12, 2006], aus dem hier zum Schluss noch zwei Zitate eingefügt sind, und eine Ausstellung in seinen – damals leer stehenden - ehemaligen Räumen im Kolumbakirchhof 2. Während der ART COLOGNE waren dort Werke zu sehen, die Zwirner einst an Sammler verkauft hatte, darunter auch an Peter Ludwig, über den sie dann wiederum ins Museum Ludwig kamen, das die meisten Leihgaben für diese Schau beisteuerte. Zur Eröffnung und zum anschließenden Abendessen im Alten Wartesaal kamen neben Zwirners großer Familie zahlreiche Freundinnen, Freunde, Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter. Seine Sammlerfreundin Heidi Klöck hat fotografiert.

Lieber Herr Zwirner, mögen Sie auch in diesem Jahr ein so schönes Fest haben! Mit allen guten Wünschen,

Günter Herzog und das ZADIK

Benjamin H. D. Buchloh: Für Rudolf Zwirner. In: sediment Heft 12, 2006, S. 20-21:

"Ohne Zögern, und ohne Übertreibung, kann ich gleich sagen, dass Rudolf Zwirner mein wichtigster Lehrer war, zumindest in jenem Fach, das zum Zentrum meiner eigenen Arbeit als Kritiker und Historiker werden sollte, die Kunstgeschichte der europäischen und amerikanischen Nachkriegszeit. Dies im ausdrücklichen Gegensatz zur ersten Begegnung mit einem Kunsthistoriker an der Universität Köln, dem erzkonservativen Heinz Ladendorf, der mir in seiner ersten Sprechstunde unvermittelt erklärte, dass es seit 1900 keine Kunst mehr gebe.

Diese ‘Lehre’ bei Zwirner teilte sich in zwei Phasen: die erste während meiner letzten zwei Jahre als Gymnasiast am Apostelgymnasium in Köln, als ich begann, Zwirners Ausstellungen am Kolumbakirchhof zu besuchen. Die für mich wohl wichtigste (unter vielen atemberaubenden Entdeckungen von Henri Michaux bis zu Jean Tinguely und Daniel Spoerri) war die Ausstellung von Zeichnungen von Cy Twombly, die mir wohl den ersten wirklichen Eindruck dessen vermittelte, was Gegenwart in der Kunst sein konnte. Als ich Zwirner anlässlich dieser Ausstellung fragte, ob ich die 800 DM für eine Zeichnung als Gymnasiast abstottern könnte, war er überaus begeistert und großzügig, mehr als meine Mutter allerdings, die nach Inspektion der Zeichnungen die versprochene finanzielle Anleihe absagte.

Die zweite Phase sollte dann allerdings sehr viel handgreiflicher werden. Knapp zehn Jahre später kehrte ich nach allzu langen Studien und Politisierungs-Prozessen in Berlin und London nach Köln zurück, und glücklicher Zufall verschaffte mir eine Anstellung in Zwirners Galerie in der Albertusstrasse. Das Gedächtnis, zumal wenn es für eine Hommage aktiviert wird, neigt wohl zu Anekdoten, und so will ich hier kurz einige wiedergeben, die sowohl Dank als auch Vergnügen der Erinnerung anzeigen sollen.

Die erste war Zwirners Entsetzen, als er erfuhr, dass ich noch nie in den USA gewesen sei, und er mich kurz nach meiner Anstellung unvermittelt nach New York schickte, um Jack Smith, Neill Jenny und Richard Tuttle zu besuchen, und Ausstellungen mit diesen und anderen Künstlern vorzubereiten. Die zweite Anekdote bezieht sich auf einen prekären Moment, als wir zusammen in Basel die Messe besuchten, und Zwirner einen fünfstelligen Betrag in einem Briefumschlag in einem Geschäft vergaß. Als ich ihn auf den Verlust aufmerksam machte, wurde er zum schnellsten Kunsthändler, den ich je gesehen habe. Die dritte Anekdote erinnert an einen Moment, als Zwirner von einer seiner regelmäßigen New York Reisen zurückkehrte, und mich beauftragte, ein kleines Paket zu öffnen, das er im Gepäck mitgebracht hatte. Nach Abwicklung dieses Auftrages hielt ich die Collage ‚Au Bon Marché’ von Pablo Picasso aus dem Jahre 1912 in der Hand, heute im Museum Ludwig in Aachen, die inzwischen in der Literatur als eine der wichtigsten Collagen des Kubismus angesehen wird.

Diese drei, mehr oder minder wahllos herausgegriffenen Anekdoten, sollen wohl drei Wesenszüge Zwirners illustrieren: zum ersten, seine ungewöhnliche Großzügigkeit, und seinen wohl noch ungewöhnlicherer Enthusiasmus, wenn es darum ging, Kunst der Gegenwart an bedarfte und unbedarfte, an betuchte und unbetuchte zu vermitteln. Die zweite Anekdote soll wohl illustrieren, dass Zwirners manchmal schier unwirklicher Enthusiasmus eine sehr reale Basis hatte: Zwirner war einer der ganz großen, wenn nicht der größte Kunsthändler der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Europa (gleichsam der Kahnweiler der Pop Art). Und die dritte Anekdote soll wohl an jenes Charakteristikum erinnern, das für mich das wichtigste wurde, weil ich am meisten von diesem gelernt habe: Zwirners untrüglicher Sinn, für das was in der Kunstgeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts wirklich herausragend und großartig war, oder auch, sein Mangel an Geduld fürs ästhetisch Mittelmäßige (so kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, je ein wirklich schlechtes Bild in der Galerie Zwirner gesehen zu haben, aber das Gedächtnis zur Hommage muß uns wohl täuschen).“

 

Aus: Reiner Speck: Oral History. In: sediment Heft 12, 206, S. 26-27:

„Rudolf Zwirner verstand es, mit seiner Galerie als Ausstellungsort, Institution und Eventtheater vielen aus der Welt der Kunst ein Forum zu schaffen. Das Multimediale wurde hier nobilitiert durch eine enthusiastisch geführte und dennoch behutsam überlegte Regie. Immer war es ein Zusammenspiel von Kunst und Leben: in seinen Galerieräumen wurden Konzerte gegeben, verkaufsfördernde Vorträge im festlichen Rahmen gehalten und natürlich eigene Hochzeiten gefeiert. Hier referierte der Hausherr selbst über Dalis „Bahnhof von Perpignan“ mit dem Ziel, das große Bild später in die Sammlung von Peter und Irene Ludwig zu bringen, hier sangen Gilbert and George ihr unvergessliches „Underneath the Arches“, hier spielte Bill Beckley sein geräuschloses Tischtennis, hier warf sich Sigmar Polke das „Große Schimpftuch“ über die Schulter, hier boxten die Kipperkids, hier performierte Jannis Kounellis aufwendig zwischen Struktur und Sensibilität, hier demonstrierte ein philippinischer Heiler und Scharlatan die blutlose Entnahme kranker Organe aus dem Körper seiner Patienten. Alles an diesem Ort wurde zur künstlerischen Manifestation, bei deren Inszenierung jeder der Anwesenden das Gefühl haben musste, Zeuge von etwas Bedeutendem zu sein, einer mis-en-scène eines Kunstwerkes oder nur einer Idee beigewohnt zu haben, die – selbst nach allgemeiner Anerkennung ihrer Schöpfer – nur selten in einer öffentlichen Kunsthalle hätte wiederholt werden können. Zu sehr war vieles mit Wasser, Feuer und Blut, mit Musik, Gesang oder Tanz verbunden. Nicht nur in solchen Momenten war die Galerie Zwirner ein „Musée avant la lettre“.

Ausstellung und Ereignis vermischten Kunstleben und Gesellschaftsleben auf eine so nonchalante wie bestimmende Art, dass daraus immer ein epochales künstlerisches Statement resultierte. Bei Zwirner war Lautes nie schreierisch, Ironisches immer nützlich, ein Affront selten beleidigend. Manches kritische Wort zur Kulturpolitik in Köln oder in der Bundesrepublik musste einfach fallen – und es verhallte am wenigsten ungehört, wenn es in den echoreichen, vom Architekten Schneider-Wessling mit Glas und Beton umgrenzten Räumen der Galerie Zwirner fiel. Hier wurde eben nicht nur Kunstmarktgeschichte, sondern auch Kunstgeschichte geschrieben. Seinen Sammlern verstand Zwirner das sichere Gefühl zu geben, bei ihren Akquisitionen jeweils das Richtige getan zu haben und darüber hinaus noch viel versäumt zu haben.

In der Erinnerung vermischt sich Persönliches mit Geschäftlichem: beeindruckt bleibt der Chronist von Zwirners Generosität zu gegebener Zeit; denn bis zu dessen 6. Dezennium gewährte der Kunsthändler dem Sammler den seit dem ersten Ankauf erbetenen Studentenrabatt: auch das ein Zeichen seines Junggebliebenseins. Einmal nur zeitigte die Nonchalance des Galeristen ungeahnt beglückende Folgen für den Sammler, als Zwirner ihm ein frühes Bild von Cy Twombly verkaufte. Das Werk war unsigniert. Nach langem Warten auf die zugesicherte Signatur entschloss ich mich, mit dem 70 x 100 cm Format unter dem Arm den in Rom lebenden Künstler aufzusuchen. Das Stück wurde auf 1957 datiert und signiert. Aus dieser von Rudolf Zwirner verursachten, ja verschuldeten Begegnung resultierte eine lange Freundschaft, auf deren Höhepunkt Twombly das berühmte „Familien-Portrait Dr. Speck“ schuf – eine zeichnerische Paraphrase des Proustschen Fragebogens.

Gegen Ende seiner Kölner Zeit erwies Rudolf Zwirner, in dessen Galerien die bekannten rheinischen Sammler Hahn, Ludwig, Lauffs, Jung, Brandhorst, Garnatz, Stoffel, Klöck und Rosarius neben vielen nationalen und internationalen verkehrt hatten, dem jüngsten unter ihnen eine besondere Ehre: er wurde zusammen mit Peter Weibel Kurator der Ausstellung „Drawingroom“ in Graz, die Zeichnungen und Skulpturen aus der Sammlung Speck zeigte […].“