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In memoriam Mary Bauermeister | 1934 – 2023

Die Künstlerin Mary Bauermeister ist am 2. März 2023 in Bergisch Gladbach verstorben. In ihrem legendären Kölner „Atelier Bauermeister“ in der Lintgasse versammelte sich Anfang der 1960er Jahre die künstlerische Avantgarde mit intermedialen Konzerten und Auftritten, die ihr den Ruf als „Großmutter des Fluxus“ einbrachten.[1]

Mary Bauermeister wurde am 7. September 1934 in Frankfurt am Main geboren. Ihr Interesse an Kunst und Musik wurde schon früh geweckt. Als Tochter des Professors für Anthropologie und Genetik Wolf Bauermeister und der Sängerin Laura Bauermeister war Musik immer ein fester Bestandteil ihres Elternhauses. Ihre ersten Berührungspunkte mit zeitgenössischer Kunst waren die Besuche mit dem Kunstlehrer Günther Ott während ihrer Schulzeit von 1946 bis 1954 am Gymnasium in Köln-Kalk in der von Hein und Eva Stünke geführten Galerie Der Spiegel in Köln-Deutz, die ihr nachhaltig in Erinnerung blieben. Um dem Berufswunsch ihres Vaters, ein naturwissenschaftliches Studium aufzunehmen, zu entgehen, ging sie kurz vor dem Abitur 1954 zusammen mit ihrem Freund – dem Fotografen Haro Lauhus – für ein Jahr an die Hochschule für Gestaltung in Ulm, die damals von Max Bill als Rektor geleitet wurde. Sie besuchte dort die Grundkurse von Max Bill und der Klee-Schülerin Helene Nonné-Schmidt. Ein Jahr später wechselten beide zum Studium an die Staatliche Schule für Kunst und Handwerk nach Saarbrücken in die Fotografie-Klasse von Otto Steinert.[2]

1957 zog sie zurück nach Köln, um fortan als freie Künstlerin zu arbeiten. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie durch den privaten Verkauf ihrer Pastelle und Aquarellzeichnungen – mit der Mappe unterm Arm ging sie von Haustür zu Haustür.[3]

Neben der Kunst lag Bauermeisters Interesse bei der modernen, elektronischen und experimentellen Musik, deren neueste Entwicklungen sie in Konzerten und im Nachtprogramm des WDR verfolgte. Als sie 1958 den Komponisten und Musiker Karlheinz Stockhausen (1928–2007) kennenlernte, inspirierte er sie Kompositionsprinzipien aus der Musik wie Wiederholung, Variationen und Überlagerung verschiedener Schichten in ihre Kunst zu übertragen. Stockhausen, der als einer der Pioniere der elektronischen Musik gilt, experimentierte in dieser Zeit im Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks, das mit seinen Klangforschungen internationale Maßstäbe setzte und zum Wegbereiter der elektronischen und Neuen Musik wurde. Seit 1958 entwickelte Bauermeister ihre sogenannten „Wabenbilder“, wabenartige Reliefs, die sie aus Zahnpasta und Modelliermasse anfertigte.

1960 mietete die Künstlerin eine Wohnung im Spitzgiebel des Hauses in der Kölner Lintgasse 28 und gründete dort am 26. März 1960 mit der ersten Veranstaltung „Musik – Texte – Malerei – Architektur“ ihr sogenanntes „Atelier Bauermeister“. Die Miete konnte sie nur durch eine Vereinbarung mit Peter Neufert, dem Architekten des Hauses, bestreiten, indem sie vereinbarte, die Nutzung des Ateliers mit ihren Kunstwerken zu bezahlen.

Das Atelier bot insbesondere den noch nicht anerkannten Akteuren der neuen elektronischen Musik und der Fluxus-Bewegung eine erste Plattform für intermediale Experimente und radikal progressive Ideen, bei denen sie die Grenzen zwischen Kunst und Musik auflösten. Von 1960 bis 1962 wurde Bauermeisters Atelier zum Treffpunkt internationaler Künstler:innen der Avantgarde aus Kunst, Musik, Literatur und Architektur, die Kölns Weg zur Kunstmetropole bereiteten. Pioniere der elektronischen und experimentellen Musik wie John Cage, Cornelius Cardew, Sylvano Bussotti, Mauricio Kagel, Karlheinz Stockhausen, David Tudor oder Kenji Kobayashi stellten ihre von Klang- und Geräuschexperimenten begleiteten Kompositionen vor, die als „Prä-Fluxus“ in die Kunstgeschichte eingingen. Theoretiker wie Theodor W. Adorno oder Literaten wie Hans G Helms lasen aus ihren Werken. Legendär waren die Auftritte des Koreaners Nam June Paik, der mit seiner „Aktionsmusik“ das Publikum schockierte.[4]

Auch Mary Bauermeisters eigene künstlerische Karriere rückte in den 1960er Jahren mehr in den Mittelpunkt. 1961 belegte sie den Kompositionskurs von Karlheinz Stockhausen bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, währenddessen sie den Plan für ihre malerische konzeption entwickelte. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelte sich eine Liaison mit Stockhausen und beide realisierten gemeinsame künstlerische und musikalische Projekte wie das experimentelle Musiktheaterstück „Originale“. Es wurde 1961 im Theater am Dom in Köln uraufgeführt. Im Jahr 1962 lud der Museumsdirektor Willem Sandberg Mary Bauermeister zu einer Einzelausstellung ins Amsterdamer Stedelijk Museum ein. Es entwickelte sich die Idee, die Kompositionen der elektroakustischen Musik von Karlheinz Stockhausen mit Bauermeisters eigenen Präsentation zu verbinden.[5] Die Ausstellung begründete die internationale Karriere der Künstlerin und tourte weiter in verschiedene niederländische Museen wie in das Groninger Museum und das Stedelijk Museum Schiedam. 1963 endete die Wandersusstellung im Haags Gemeentemuseum und Stedelijk van Abbe-Museum in Eindhoven.

In Deutschland war es für Mary Bauermeister schwierig, mit ihrer Kunst – den „ready trouvés“, wie Linsenkästen, Steinspiralen aus glatten Kieselsteinen, Lichttüchern und Linienzeichnungen, die sie aus gefundenen Naturobjekten wie Steinen, Glas, Holz, Pilzen und Papier kombinierte – Anerkennung zu finden.

Schon im Sommer 1962 zog die Künstlerin nach New York und nahm 1963 an einer Gruppenausstellung in der Galeria Bonino teil. Im März 1964 folgten ihre erste Einzelausstellung und weitere Ausstellungen in der Galeria Bonino, mit der schließlich ihr künstlerischer Durchbruch auf dem New Yorker Kunstmarkt gelang. Sie lernte Künstler:innen wie Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Merce Cunningham, Carolyn Brown, Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle kennen. Bekanntheit erlangte die Künstlerin vor allem ab 1964 mit ihren sogenannten „Linsenkästen“, offene mit Tinte beschriftete Holzboxen mit mehreren, hintereinander liegenden Glasscheiben und darauf angeordneten Lupen, Linsen und Prismen. Ihre Werke wurden von zahlreichen amerikanischen Museen, wie dem Museum of Modern Art, Solomon Guggenheim Museum, Whitney Museum oder dem Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington erworben.

Im Jahr 1967 erfolgte der Umzug nach San Francisco und die Hochzeit mit Karlheinz Stockhausen. Auch in San Francisco fand sie schnell Anschluss an die Kunst- und Musikszene und lernte die Beatles und Pink Floyd kennen. Marcel Duchamp vermittelte  Bauermeister 1972 den Kontakt zur Mailänder Galeria Arturo Schwarz, die ihr eine Einzelausstellung ausrichtete.

Im selben Jahr kehrte die Künstlerin endgültig nach Deutschland zurück. Ein Jahr darauf, 1973, erfolgte die Scheidung von Karlheinz Stockhausen. Sie erwarb ein Grundstück in Rösrath-Forsbach und ließ sich vom Kölner Architekten Erich Schneider-Wessling ein Wohn- und Atelierhaus bauen. Das terrassenartige Haus mit einem großen Dachwassergarten, umgeben von einem großen Natur- und Kunstgarten mit selbstgebauten Hütten, alten Bau- und Zirkuswagen, in denen Künstler:innen arbeiten und übernachten konnten, gestaltete Mary Bauermeister zu einer Art Gesamtkunstwerk. Ihr Anwesen wurde zu einem Treffpunkt für Künstler:innen, Schriftsteller:innen und Musiker:innen, als auch für Grenz- und Parawissenschaftler:innen und Geomantiker:innen. Einmal im Monat organisierte sie einen offenen Ateliersonntag mit Lesungen, Konzerten und Veranstaltungen für ihre Gäste.

Seit den 1970er Jahren entwickelte Mary zahlreiche Entwürfe für Gartengestaltungen und Kunst am Bau-Projekte für große Firmen- und Privatkunden. Sie wurde von internationalen Galerien vertreten wie der Staempfli Gallery New York und seit 1998 bis heute von der Kölner Galerie Schüppenhauer. In Deutschland wurde ihr Kunstschaffen lange ignoriert, als erstes deutsches Museum zeigte das Mittelrheinmuseum in Koblenz 1972 eine erste größere Retrospektive. 1980 folgte eine Einzelausstellung in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach. 1992 war sie an der großangelegten Wanderausstellung „Fluxus Virus. 1962–1992“ beteiligt. Anlässlich ihres 70. Geburtstags erwarb das Kölner Museum Ludwig im Jahr 2004 die mehrteilige Wandarbeit „Needless needles“ (1963). Gleichzeitig widmete die Galerie von Christel Schüppenhauer eine Ausstellung mit Katalog als „Hommage à Mary Bauermeister zum 70. Geburtstag“.[6]

Im Jahr 2011 veröffentlichte Mary Bauermeister das Buch „Ich hänge im Triolengitter. Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen“,[7] in dem sie nicht nur ihre unkonventionelle Lebensgemeinschaft und Beziehung mit Karlheinz Stockhausen aufarbeitete, sondern auch über ihre Reisen durch die ganze Welt und Begegnungen mit Künstler:innen wie Marc Chagall, Max Ernst oder Joan Miró berichtete.

Mit ihrer Leidenschaft und ihrem Engagement sowie ihrer Unterstützung für Künstler:innengenerationen über Dekaden prägte Mary Bauermeister eine Kunstlandschaft mit, indem sie Orte der Begegnung und des Zusammenspiels von Kunst und Musik schuf. Ihre Ateliers und Wohnorte waren in ihrer untrennbaren Verbindung von Kunst und Leben Anziehungspunkte und Kristallisationsorte, die weit über die Grenzen der Stadt Köln und das Rheinland hinaus wirkten.

Im Jahr 2012 öffnete Mary Bauermeister für das ZADIK ihre Türen in Rösrath-Forsbach und gab Studierenden der Lehrveranstaltung von Günter Herzog und Ursula Frohne vom Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln intensive Einblicke in ihr Leben und das in dem legendären Wohnhaus bewahrte Archiv. Dieses wurde vor Ort erschlossen, gescannt und die Digitalisate befinden sich heute unter der Signatur K1 im ZADIK.

Im Jahr 2020 erschien der Dokumentarfilm „Mary Bauermeister – Eins und Eins ist drei“, der weitere private Einblicke in ihr Leben und Schaffen ermöglichte. Ebenfalls 2020 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Jahr 2021 folgte eine weitere Ehrung: Mary Bauermeister wurde als erste Preisträgerin mit dem „Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen“ ausgezeichnet, der ihr künstlerisches Gesamtwerk würdigte.

„all things involved in all other things”, so lautet der Titel einer Arbeit von Mary Bauermeister aus dem Jahr 1966/68, der das universale Denken von Mary Bauermeister treffend umschreibt.[8]

 


[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/kuenstlerin-mary-bauermeister-die-pionierin-der-fluxus-100.html (18.11.2024).

[2] Biografie Mary Bauermeister zusammengestellt von Hauke Ohls, in: Göckede, Regina / Hüsch, Anette (Hg).: 1+1=3. Die Kunstwelten der Mary Bauermeister. Ausst.Kat. Kunsthalle zu Kiel, 08.10.2022–05.03.2022, S. 184.

[3] Interview mit Mary Bauermeister, in: Herzogenrath, Wulf/Lueg, Gabriele (Hg).: Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt. Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, 31.08.–16.11.1968, S. 142.

[4] Dörstel, Wilfried: Chronologie, in: Historisches Archiv der Stadt Köln (Hg.): Das Atelier Mary Bauermeister in Köln 1960-62. Köln 1993, S. 49–50.

[5] Wie Anm. 2: Anette Hüsch: Ein künstlerisches Einmaleins. Mary Bauermeister begegnen, in: Göckede, Regina / Hüsch, Anette (Hg).: 1+1=3. Die Kunstwelten der Mary Bauermeister. Ausst.Kat. Kunsthalle zu Kiel, 08.10.2022–05.03.2022, S. 14.

[6] Mary Bauermeister «all things involved in all other things«. Galerie Schüppenhauer (Hg.), Köln 2004.

[7] Mary Bauermeister: Ich hänge im Triolengitter: Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen. Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann (Hg.), 2011.

[8] Wie Anm. 6.

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